Radroute 20 / 15
Westpommern
Da die ursprünglich geplante Fortsetzung des R 1 aus den im betreffenden Kapitel genannten Gründen nicht möglich war, beschlossen wir nun, den nördlichen Abschnitt der Route 20 / 15 kennenzulernen.
Die nach Süden und dann in westlicher Richtung weiter führende Route wird im Kapitel "Zwei neue Touren mit Wanda östlich der Oder" beschrieben.
Im Flyer vom Marschallamt sieht das alles schon ziemlich perfekt aus, so dass (nach Fertigstellung der Bahnbrücke Bienenwerder – Siekierki auf deutscher Seite) eine durchgehende Radroute von Berlin bis Kołobrzek besteht, die in einem Zug mit den berühmten Routen Berlin – Kopenhagen und Berlin – Usedom zu nennen wäre.
Am nächsten Morgen schüttete es aus Eimern. Um nach Choszczno zu gelangen, mussten wir erst einmal in Krzyż umsteigen. Es regnete in unverminderter Stärke weiter. Die Umsteigezeit war ziemlich lange und die Entscheidung, wie es weiter geht haben wir vom Regen abhängig gemacht. Als der Zug nach Choszczno einlief, ließ der Regen nach und wir sind eingestiegen, … wenige Minuten später kam der Zug nach Kosterzyn, den wir ansonsten genommen hätten!
In Choszczno ließ der Regen nach und wir konnten losradeln. Es war nicht ganz einfach die Route zu finden aber in Open Cycle Maps ist sie bereits verzeichnet und so war der schon etwas außerhalb der Stadt gelegene Routenbeginn doch auffindbar. Ungefähr 15 km ging es auf einer nicht ganz ruhigen Landstraße nach Norden ehe die extrem stark befahrene Nationalstraße 10 bei Nosovo erreicht wird.
Gott sei Dank ist neben dieser Straße kürzlich ein Radweg fertig gestellt worden. Auch wenn gerade Lkw Fahrer sich gegenüber Radlern meistens rücksichtsvoll verhalten, wäre dieser 4 km lange Abschnitt bis Wapnica auf der relativ schmalen Fahrbahn doch höchst gefährlich. Kein Vergleich mit dem Abschnitt der Staatsstraße 22 am ersten Tag der Tour.
Weiter nördlich können wir dann auf einem ca. 20 km langen hervorragenden Radweg bis zum Dorf Kozy völlig entspannt weiter radeln. Zwischen Kozy und Insko (Nörenberg) ist der Weg noch in Planung.
Die Stadt Insko bietet mit einem Aussichtsturm am gleichnamigen See einen im wahrsten Sinne des Wortes Höhepunkt an. Als besonders bemerkenswert gilt die Tatsache, dass ein kostenlos zu nutzender Aufzug vorhanden ist.
Exakt in 55 Km von Choszczno hat Wanda neben einer sehr ruhigen Landstraße einen perfekten Radweg angelegt, der bis zum Tagesziel in Drawsko Pomorskie (Dramburg) führt. In dieser Kleinstadt bestehen noch einige Häuser der vorletzten Jahrhundertwende. Als besonders schön ist der Park anzumerken, der von der Drawa (Darge) durchflossen wird und mitten in der Stadt ein Stück „unberührter Natur“ bietet.
Drawsko Pomorskie
Wildnis in mitten der Stadt
Ab Drawsko Pomorskie wird die Routenführung etwas unübersichtlich. Die Route 20 führt weiter nach Norden und dann einige Kilometer nördlich der Staatsstraße 20 und dann wieder zurück nach Złocieniec in südlicher Richtung. Ein ziemlicher Umweg auf einer noch nicht beschilderten Route über Wege unbekannter Qualität! Wir haben uns entschieden, die 12 km nach Złocieniec auf der Staatsstraße 20 zu radeln, die zwar stark befahren war, aber deutlich geringer als die 22 am Tag zuvor. Wandas Kollege (bei Komoot bekannt als Master of no Road) hat mir kürzlich den Grund für diesen Umweg genannt. Entlang der Hauptstraße gibt es keine verfügbare ausreichende Fläche zur Anlage eines Radweges. Das Amt müsste über fast die gesamte Länge die Flächen erwerben!
(Siehe Kapitel „Radrouten östlich der Oder“)
In Złocieniec (Falkenburg) beginnt dann mit der die Route 15 das Paradies für Radler. Soweit ich mich erinnern kann, ist diese Route, die ich 2014 in der Zeit meines ersten Stettinaufenthalts zum ersten Mal geradelt bin, technisch nochmals verbessert worden. Die Route verläuft, wie so viele andere in Westpommern, auf einer stillgelegten Bahntrasse. Es handelt sich um den nördlichen Abschnitt der von Kalisz Pomorski (Kallies) kommenden Verbindungsbahn nach Swidwin (Schievelbein) bzw. zur Hauptstrecke Szczenik (Neustettin) – Białogard (Belgard). Sie wurde erst 2001 stillgelegt. Die Radroute verläuft durch eine beschauliche Landschaft mit Wäldern, Mooren und Seen der „Pommerschen Schweiz“. Radeln in seiner schönsten Form. Leider geht es nicht immer so weiter. Nach nur 30 viel zu kurzen Kilometern endet die Route. Das Städtchen Połczyn Zdoj (Bad Polzin) bietet mit seiner durch bunte Schirmen in angenehmes, schattiges Licht getauchten Fußgängerzone einen durchaus würdigen Abschluss.
Vor 1700 wurde durch Zufall erkannt, dass das Wasser einer Quelle im Ort Linderung bei Augenkrankheiten schafft. Auch für Venenkrankheiten war das Wasser so gesundheitsfördernd, dass sogar Königin Luise zu den Kurgästen zählte.
In Złocieniec wird Hilfe für Radler angeboten
Landkarte an einer Hausfassade in Złocieniec
Beginn des fantastischen Radwegs auf ehemaliger Bahnstrecke
Ein ehemaliger Bahnhof von Chlebowo (Gubin)
Fußgängerzone in Połczyn Zdroj
Ein kurzes Stück auf einem nagelneuen Radweg, auf dem man nicht radelt sondern dahin gleitet, bietet nördlich von Połczyn Zdoj perfekten Radelgenuss. Aber dann wird der Weg nicht auf der in der Landschaft noch erkennbaren Bahntrasse weiter geführt, sondern biegt auf eine ruhige alte Allee nach Norden ab. Dieser kurze Bahntrassenradweg ist Teil der oben erwähnten Strecke nach Swidwin. Man würde also bei einer Fortsetzung des Bahntrassenradwegs nicht weiter in nördliche Richtung gelangen, sondern nach Westen und das Routenziel Białogard (Belgard) somit verfehlen.
Man radelt nicht, man fliegt
Abbiegen auf eine alte Allee
In Białogard sind noch einige spätmittelalterliche Bauwerke zu bestaunen.
„Die Stadt erlebte ihre Hochblüte im 15. Und 16. Jahrhundert. Zur damaligen Zeit war der Pferdemarkt von Białogard sehr berühmt. Die Stadt hat bis heute ein aus dem Mittelalter erhaltenes Straßennetz. Von der ehemaligen Macht der Stadt zeugen die erhaltenen Relikte der Stadtmauer. Darüber ist das mit Blende nun Ziegel Fries geschmückte Hohe Tor erhalten Heute beherbergt es eine Kunstgalerie. Neben dem Marktplatz erhebt sich die gotische Kirche der Geburt der Allerheiligsten Jungfrau Maria von Anfang des 14. Jahrhunderts. … Wenn man den Turm genauer betrachtet, stellt man fest, dass er sich etwas neigt. Auf dem Marktplatz befindet sich das ehemalige klassizistische Rathaus von 1827 mit einem hölzernen Uhrturm. 2004 wurde das Rathaus restauriert und beherbergt heute das Standesamt und … ein Museum.“ (Auf Lubinus Spuren-Ein ungewöhnlicher Reiseführer, Szczecin 2014)
Das einzige Restaurant ist eine, allerdings ausgesprochen gute, Pizzeria.
In Polen werden auch für Rockmusiker Denkmäler aufgestellt.
Czeslaw Niemen war einer der bedeutendsten und originellsten polnischen Singer-Songwriter des 20. Jahrhunderts, der jedoch in keiner unmittelbaren Verbindung zu Białogard stand.
Übernachtet haben wir im wohl einzigen Hotel des Ortes, einem im Gewerbegebiet gelegenen Hochzeitspalast. Das Zimmer war mit Himmelbett und anderen lustigen Dingen ausgestattet und der Speise-Frühstücksraum präsentierte sich als riesiger Saal mit großer Freitreppe für das Defilee der Hochzeitsgäste!
In Białogard
Denkmal für
Czeslaw Niemen
Übernachten im Hochzeitspalast
Der letzte Tag der Fahrradreise war angebrochen und die letzte Etappe Bahntrassenradeln stand auf dem Programm.
Der südlichste Zugang zur Radroute auf einer der stillgelegten Trassen der Kolberger Kleinbahn befindet sich gut 10 km nördlich von Białogard in Karlino (Körlin). In diesem Ort gibt es ein Tourismusbüro, das ganz auf das Bahntrassenradeln eingestellt ist. Leider ist auch dort das deutsche Exemplar der ausführlichen Broschüre, die auch ich nur in der englischen Version besitze, vergriffen.
(„The Cycletrack along the narrow-gauge Raiway Embankments“ Karlino 2012, www.parseta.org.pl)
In dieser Broschüre steht alles Wissenswerte über die ehemalige Kolberger Kleinbahn.
Auf der Grundlage des vom Preußischen Abgeordnetenhaus erlassenen Gesetztes von 1892 über Kleinbahnen und Privatanschlussbahnen, entstand eine rege Bautätigkeit privater und kommunaler Eisenbahngesellschaften. 1894 wurde die Kolberger Kleinbahn-AG in Kołobrzeg (Kolberg) gegründet; ihren Sitz hatte die AG jedoch zunächst in Gościno (Groß Jestin), der erst 1920 nach Kolberg verlegt wurde. Am 1. Juni 1895 wurde der erste Streckenabschnitt der Bahn in Betrieb genommen. Die Kleinbahnen dienten vorrangig dem Transport landwirtschaftlicher Produkte zu einer der Hauptbahnstrecken. Personenzüge wurden erst später verstärkt eingesetzt.
1895 wurden die Strecken Rymań (Roman) –(Kolberg) und Gościno (Groß Jestin) – Sławoborze (Stolzenberg) eingeweiht. Erst 1915 wurde die Strecke von Gościno (Groß Jestin) nach Karlino (Körlin) verlängert und schon in den 1960er Jahren wurden diese Strecken wieder stillgelegt und abgebaut. Auf dieser verläuft nun der perfekt asphaltierte Radweg durch die mit Auwäldern, Wiesen und Torfmooren der Persęta (Persante) geprägten Landschaft. Die Persęta fließt mäandernd neben der Bahntrasse entlang und mündet in Kołobrzeg (Kolberg) in die Ostsee. Leider sind so gut wie keine Bahnrelikte mehr erkennbar. Alte Kilometersteine, hier und da etwas Schotter an den Seiten, wie auf der Route 3 südlich von Gryfino, lassen mehr Eisenbahnfeeling aufkommen. Beeindruckend sind die Brücken über die Persęta. Nicht umsonst wird auch vom Kleinbahnnetz im Persantetal gesprochen.
Ein würdiger Abschied der Radreise.
Und dann die Einfahrt nach Kołobrzeg entlang der Altstadt, über die Persętabrücke zum Bahnhof, alles noch sehr vertraut von der Tour auf dem Ostseeradweg im letzten Jahr.
Fazit
Der Eurovelo R1 ist als Tour, auf der man interessante Orte kennen lernen kann, eine lohnende Alternative zum Ostseeradweg, mit im Sommer stark besuchten Orten. Nur brauchen Radler wegen der Fahrt auf teilweise hoch belasteten Hauptverkehrsstraßen eine gehörige Portion Stressresistenz. Erholsames, beschauliches Radeln ist zumindest auf dem hier beschriebenen Abschnitt nur auf kürzeren Etappen möglich. Wir werden sehen, wie es weiter östlich aussieht. Im Reiseführer „Polen Aktiv“ (Kettler Verlag 2007) habe ich das erste Mal von der Existenz dieser Route erfahren.
„Der seit 1996 durchgehend ausgeschilderten polnische Abschnitt für zunächst durch Groß- Polen und Pommern bis hin zur Ostseeküste. Die erste Hälfte des Radweges ist sehr ländlich und weniger touristisch erschlossen, so dass eine Tour zwar wegen der knappen Übernachtungskapazitäten nicht ganz einfach ist, sich aber umso mehr für Radler lohnt, die das Alltagsleben in Polen kennen lernen wollen. Ausschilderung und Straßenqualitäten sind durchgehend gut.
Als dieses Buch erschien, war Radfahren auf Landstraßen in der Tat kein Problem. Als ich 2008 von der Slowakei kommend Richtung Przemysl geradelt bin, war ich noch froh, wenn mal ein Auto kam und ich damit wusste noch auf der richtigen Straße zu sein. Sicher war Ostpolen damals deutlich geringer motorisiert als der Westen. Aber auch in den Jahren um 2010 war der Verkehr in Westpolen noch so überschaubar, dass man auf Landstraßen, deren Zustand deutlich besser war, als im Gebiet der ehemaligen DDR, durchaus gut Radfahren konnte.
Wie ich schon im Kapitel „Radrouten östlich der Oder“ vorhergesagt habe, wird die Route 20 eine echte Konkurrenz zu den angesagten Routen Berlin-Usedom und dem Oder-Neiße Radweg.
Allerdings ist doch noch so einiges zu tun. Z.B. ist eine Radverbindung zwischen Drawsko Pomorskie und Złocieniec dringend erforderlich, ebenso ein Radweg entlang der Hauptstraße nördlich von Choszczno.
Wenn diese und noch weitere kleine Optimierungsmaßnahmen umgesetzt sind (und die Oderbrücke auch auf deutscher Seite eröffnet ist!!!) steht einer Radtour von Berlin nach Kołobrzeg nichts mehr im Wege. Hoffentlich können die erforderlichen Baumaßnahmen in absehbarer Zeit abgeschlossen werden.